Der Abschiedsbrief
Der Abschiedsbrief
Danke. Sie sagt “danke” für alles.
Für ein paar Tage stand ihr Leben Kopf.
Für ein paar Tage war alles anders.
Eine Nachricht vom Arzt, die ihr Leben ändern würde.
Die Vernunft hat gesiegt.
Doch nicht immer ist Vernunft die beste Lösung.
Wie weit darf Egoismus gehen? Wann ist es besser,
die Notbremse zu ziehen? Wann darf man Gefühlen nachgeben?
Wann ist es besser, zu gehen und zu vergessen?
Sie weiß auf all diese Fragen keine Antwort. Und sie will keine mehr finden. Sie will sich fallen lassen, ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Immer wieder träumt sie davon, am Abgrund zu stehen, ihre Arme auszubreiten und sich fallen zu lassen. Doch sie weiß, welche Konsequenzen das hätte. Und auch das würde sie nicht schaffen. Egal wie, sie verliert. Sie kann dieses Spiel nur verlieren, weil sie die Spielregeln nicht gemacht hat. Immer wieder versucht sie auf die Beine zu kommen und immer wieder zieht ihr jemand den so sicher geglaubten Boden unter den Füßen weg.
Doch dies soll das letzte Mal gewesen sein.
Ändern? Ändern wird sie sich nie. Sie wird immer auf volles Risiko spielen und sie wird immer verlieren. Sie ist eine Verliererin. Das wird stets so bleiben. Also hat sie keine Wahl mehr. Sie muss es beenden. Dieses Leben, dass mehr als einmal ungerecht zu ihr war.
Egoistisch? Vielleicht. Aber irgendwann in diesem Leben ist sie an der Reihe. Einmal nur möchte sie die Siegerin sein. Und dieses Mal wird sie siegen. Sie wird ihr Leben besiegen. Ganz heimlich, ohne großes Aufsehen. Ohne Chance, gefunden zu werden. Und damit nichts schief geht, wird sie auf Nummer sicher gehen.
Sie hat sich Schlaftabletten besorgt. Und sie hat ihr Messer dabei. Die Abschiedsbriefe sind geschrieben und abgeschickt. Ihre Lieben werden sie morgen in der Post haben. Ihr Begräbnis ist dort genau geregelt. Sie möchte einen weißen Sarg haben. Keinen Grabstein. Nur ein Holzkreuz. Und keine Rosen. Sie hasst Rosen, besonders rote. Ein Symbol der Liebe sollen sie sein. Dabei fügen sie nur Schmerzen zu.
Sonnenblumen möchte sie haben. Eine, für jeden Geburtstag, den sie gefeiert hat. Ihre Jeans, die Stiefel und natürlich ihr Lieblings-Shirt möchte sie tragen. Sie hat alles gewaschen, gebügelt und zu Hause auf das frisch gemachte Bett gelegt. Ihre Ringe. Auch den ihrer Oma. Und bitte keine Blumenerde. Kaffeepulver soll sie umgeben.
Weinen soll niemand um sie. Sie ist es einfach nicht wert. Sie hat nichts in ihrem Leben, dass sie ausmacht. Sie hat gelogen, betrogen und war doch immer nur auf der Suche, nach Liebe und Geborgenheit. Doch sie wurde benutzt. Immer wieder und wieder. Hat die Lügen und Versprechen anderer geglaubt und irgendwann selbst gelogen und Versprechen gebrochen.
Das Testament ist beim Anwalt hinterlegt.
Sie hat ihr Handy ausgemacht. Sich im Internet aus allen Foren abgemeldet. Sie hat alle Überweisungen getätigt. Und gesagt, sie sei einkaufen. Sie hat also an alles gedacht.
An alles? Nein, aber an sich und ihr Projekt. Ein Projekt, das nicht scheitern darf. Sie hat sich Whiskey besorgt. Sie hat auch ein Glas dabei. Hat die Tabletten, das Messer und da sie nie besonders mutig war, hat sie auch nicht vor, alleine zu gehen. Sie hat ein Geheimnis, dass ihre Übelkeit und das Erbrechen erklärt. Doch auch hier hat sie sich niemand anvertraut. Sie wird dieses Kind mitnehmen in den Tod.
Und sie wird schon erwartet. Ihre Oma hat im Traum zu ihr gesprochen. Sie wird ihr einen Kuchen backen. Wie sie sich auf ihre Oma freut. Ihre Freunde wird sie wieder sehen. All jene, die sich nach dem Schulabschluss das Leben nahmen, bei Unfällen nicht genügend Glück hatten, oder im Drogenrausch von ihr gingen. Sie kann gar nicht mehr zählen, wie viele sie schon zu Grabe getragen hat. Und das nächste Grab wird ihr eigenes sein.
Ein letztes Mal fährt sie zu ihrem Lieblingsplatz. Ob überhaupt jemand diesen Platz kennt? Ob jemand nach ihr suchen wird? Bestimmt nicht. Sie hat niemandem davon erzählt. Ihre Lieblings-CD hat sie dabei. Sie soll bei der Beerdigung ein letztes Mal gespielt werden. Niemand soll in schwarz kommen. Schwarz war ihre Farbe und so soll es auch bleiben. Und auch keine Todesanzeige in einer Zeitung soll es geben.
Es würde einfach zu vielen Männern gut tun, diese zu lesen. Aufatmen würden sie. Bräuchten keine Angst mehr haben, sie würde ein Geheimnis ausplaudern. Würde zu eifersüchtigen Ehefrauen gehen oder dem Vater dieses Kindes die Existenz kaputt machen. Viele würden ein Fest feiern. Der Teufel ist endlich tot. Lasst uns darauf trinken.
Doch heute feiert sie ihre eigene Party. Sie setzt sich unter einen Baum und trinkt. Schnell ist die Hälfte der Flasche geschafft. Dann nimmt sie das Messer. Langsam beginnt sie zu schneiden. Einen Schnitt für jeden Mann, der ihr weh tat. Das Messer gleitet durch ihre Haut, wie durch ein zartes Stück Fleisch.
Immer wieder kommen ihr die Tränen. Und immer wieder nimmt sie eine Tablette und spült sie mit einem großen Schluck Whiskey runter. Dann schneidet sie weiter. Das Blut läuft schon aus alles Adern. Doch sie kann nicht aufhören. Es ist wie eine Befreiung. In jede Narbe, die ihr so ein Scheißkerl zufügte, schneidet sie rein. Sie möchte diese Narben nicht mitnehmen. Immer schneller fließt das Blut und die Flasche ist fast leer. Langsam wird sie müde.
Sie legt ihre Handtasche mit all ihren Dokumenten unter ihren Kopf. Dann nimmt sie ihren MP3-Player und hört sich wieder und wieder ihre zwei Lieblingslieder an. Die Müdigkeit wird immer stärker. Schmerzen verspürt sie keine mehr.
Plötzlich steht sie wieder auf dem Felsen. Sie breitet ihre Arme aus und lässt sich fallen. Doch sie fällt nicht. Sie schwebt. Bis zur kleinen Brücke, an der sie sich immer mit ihrer Oma traf. Doch dieses mal ist es anders. Nie zuvor konnte sie über diese Brücke gehen. Immer hatte sie das Gefühl, am Boden festgewachsen zu sein. Und immer hatte ihre Oma sie wieder nach Hause geschickt. Doch nun steht ihre Oma wieder da. “Komm rüber, wir warten schon auf dich. Der Tisch ist gedeckt. Es gibt deinen Lieblingskuchen und nachher koche ich für dich. Und nun trinken wir erst mal einen Kaffee und rauchen eine Zigarette.”
Sie nickt. Stumm geht sie über die Brücke. Sie dreht sich auch nicht um. Ihre Oma nimmt sie in den Arm. Sie fühlt sich endlich wohl. Endlich ist sie angekommen.